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Renate Konrad

Der Wolf


Der Wolf kommt, er schleicht ums Haus,

erspäht die Kinder und nimmt sie fort.

Hinterlistig, gemein und ungeniert

Mit hoch erhobenem Haupte schaut er her, grinst und schleicht weiter

Angst, blinde Wut und Hass


Bodenloser Hass steigt hoch, krallt sich fest, schnürt den Magen zu

Wozu ihn angreifen, wieso ihn schlagen?

Er zieht seine Kreise, höhnisch grinsend, mit hinterlistigen Augen

Er ist da und fordert sein Recht ein

Wie ihm dieses verwehren?

Wie ihm nachweisen das Unrecht, von dem das Herz weiß?


Der Hass rührt sich, er meldet sich, möchte gesehen werde, möchte sich bewegen

Die Vernunft verbietet ihn, lässt ihn schweigen, sperrt ihn ein hinter dicke Mauern

Von da sieht er alles, haucht seinen Atem aus,

er rüttelt an den Stäben

Würde er können, würde er den Wolf in Stücke reißen

Blinde Wut treibt ihn an, seine treue Gefährtin

Doch sie ereilt dasselbe Schicksal.

Hinter dicken Mauern und hinter eisen verhangenen Fenstern, fristet sie ihr Dasein


Was haben sie verbrochen?

Wo ist ihre Macht?

Wo ist ihre Würde?

Wer erfüllt ihre Aufgabe, das Leben zu beschützen, jetzt?

Wer stellt sich dem Wolf entgegen?

Wer beschützt die Kinder vor dem Raub?

Ratlosigkeit, Stille, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Chaos

Die Leere, die Taubheit, sie breiten sich aus wie Wasser, das kein Ufer kennt


Der Hass und die Wut, sie sinken nieder in ihren Kammern

Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit überkommen sie

Sie werden nicht gehört und nicht gesehen.

Traurigkeit, Stille

Und doch, eine hat sie gesehen

Das Mauerblümchen,


still, einsam und schweigsam streckt es ihnen die Arme hin

Angst durchfließt es

die Neugierde ist stärker, der Ruf unüberhörbar

es muss es tun, für das Leben, für die Gerechtigkeit, für die allumfassende Ordnung

schon gleich berührt es den Hass

erhascht seine Schulter, fühlt seine Kälte


Erstaunen

er ist klein, weich, zusammengekauert,

nicht größer als ein kleines Kind, das sich duckt vor lauter Angst

Er birgt sein Gesicht

Scham umhüllt ihn, verschleiert seine Augen

Er wagt es nicht aufzublicken

Spürt die Hand an seiner Schulter, kraftlos lässt er die Berührung über sich ergehen

Wieder hat er versagt,

Wieder kann er nichts tun gegen den Wolf, der da kommt und Leben dahinraffen wird.


Die Hand an seiner Schulter ist immer noch da

Sie ist einfach nur da, hält ihn und lässt nicht zu, tiefer zu sinken

Lässt nicht zu, dass er groß wird

Wer ist er schon, wenn er nicht hassen kann,

er muss groß werden dafür, die Hand, sie berührt ihn tief, nimmt ihn seine Wut

Doch ohne Wut ist er nur ein Häufchen Elend,

ein Niemand, ein Versager, ein Nichtsnutz, der nichts auf die Reihe bekommt

Einst verwendet, gezwungen und verpflichtet zum Töten Unschuldiger

Jetzt ein Wrack, ein Schatten seiner Selbst


Seine Kinder kann er nicht retten, dem Wolf ausgeliefert, der immer noch herumschleicht

Eins nach dem Anderen wird geholt und er, er schaut zu, hilflos und machtlos

Wozu noch hassen?

Wozu noch schreien und toben?

Das Leben ist nicht mehr wert als ein leeres Wort

Verrat, Erniedrigung, Entwürdigung

Er kann sich nicht wehren, er kann sich nicht wehren vor dem Wolf, der sein Leben will


Diese Hand auf seinen Schultern, ruft Erinnerungen hoch von längst vergangenen Zeiten

Nein, er ist nicht stolz

Er hat überlebt, die Hölle, das Fegefeuer

Wird er jetzt die Liebe überleben?

Die Hand an seiner Schulter schenkt ihm Mut

Er erhebt sich, schaut sich um, sieht den Wolf herumschleichen

Listig seine Beute umkreisen

Es betrachtet ihn, sein Fell, seine Augen, sein Maul, das er sich schon leckt

Die Augen, die er zukneift und wieder öffnet


Da zeigt es sich, das Wesen im Wolf

Er spürt die Verbindung

Er sieht die Bestie und erkennt sich selbst

Zwei Wesen, verletzt, geschunden und verzweifelt

Mitgefühl steigt auf


Sie setzen sich gegenüber, reichen sich die Hände und betrachten sich

Sie sind keine Feinde, sie sind keine Freunde

Sie sind alte Bekannte aus einer längst vergangenen Zeit,

die sich wieder und wieder treffen, außerhalb von Raum und Zeit


Unter der Hand auf seiner Schulter ist er groß und kräftig geworden

Er ist dem Wolf nun ebenbürtig

Er fühlt nun, dass er seine Kinder beschützen kann,

für sie da sein kann,

ihnen wird kein Schaden mehr zugefügt

sie sind sein Fleisch und Blut

sie tragen sein Leben in sich

Er wird den Wolf zähmen, für seine Kinder


Er holt die Wut, denn sie soll ihm helfen, zur Seite stehen und seine Gefährtin sein im Kampf

Auch auf ihrer Schulter liegt nun die Hand des Mauerblümchens

So ziehen sie in die Schlacht, ihre Kinder zu schützen

Das Leben zu verteidigen und ihm sein Recht auf Leben zurückzugeben

Freude durchflutet ihn

Stolz und Liebe füllen seine Brust

Seine Kinder schließt er in seine Arme

Er umarmt das Leben und das Leben umarmt ihn

Er ist heimgekehrt

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